Hatte ich doch im April in den Giardini aus irgendwelchen Gründen den Ungarischen Pavillon ausgelassen, so umrundete ich diesmal den markanten Bau aus dem Jahr 1909 und fand hinein.
Im Innenhof öffnet sich der obige Eingang zu einem durch Eisenketten verbundenen Skulpturenpark der ungarischen Künstlerin Zsófia Keresztes, Skulpturen aus Mosaiksteinen die in organischen Formen erotisch sexuelle Assoziationen hervorrufen. Diese Assoziationen sind nicht geschlechtsspezifisch, sondern eine Suche nach Identität. Die Künstlerin bezieht sich dabei auf Schopenhauers Stachelschwein Dilemma, so wie ein Stachelschwein als soziales Wesen die Nähe eines anderen sucht, so besteht in der Nähe aber immer auch die Gefahr von Verletzungen durch die Stacheln des anderen. Ein anderer Auslöser für die Arbeit war der Roman „Reise im Mondlicht“ von Antal Szerb aus dem Jahr 1937.
In dem Buch geht es um den jungen Mihaly, der seine, dem eigenen Freund zuvor ausgespannte, frischgebackene Ehefrau bereits in den Flitterwochen verlässt. Als Mihaly in Venedig ankommt, macht er sich allein auf, die Mosaiken von Ravenna zu entdecken, in der Hoffnung, Erinnerungen an seine Kindheit zu wecken. Das Stachelschwein-Dilemma passt perfekt zur Geschichte des Romans: Die Relikte vergangener Kulturen lassen den Protagonisten erkennen, dass Individuen ihre Identität nicht nur aus ihrer eigenen sozialen und kulturellen Sozialisation beziehen, sondern dass die eigene Präsenz zwangsläufig auf den Fragmenten der Vergangenheit aufbaut. Diese Ausstellung paraphrasiert nicht den Roman, sondern verwendet als poetische Analogie die mystische Erfahrung des Protagonisten, die Mosaike zu sehen, insbesondere jenen Moment, in dem sein Sinn für Ganzheit erschüttert und sein zuvor unangefochtenes Weltbild in Frage gestellt wird. Durch das Leiden an Zweifel wächst eine Person in die Lage, sich ihrem sich ständig verändernden Selbst zu stellen. Die Ausstellung in vier größeren Einheiten untersucht sowohl die ambivalente Beziehung zwischen Vergangenheit/Gegenwart und Zukunft als auch die Stadien, in denen Menschen ihre eigene Identität ausarbeiten. In der gegenseitigen Reflexion befreit von den Lasten gemeinsamer und individueller Erfahrungen, versuchen die aufeinander verwiesenen Körperfragmente – getrennt und doch als eine Gemeinschaft existierend – ihre endgültige Form zu erreichen.
Die Gebilde scheinen zum einen eine eigenständige skulpturale Qualität zu haben und sind doch auch ein Ensemble, eine Installation die als ganzes funktionieren soll. Dabei sind die Ketten ein zentrales Element, sie verbinden und fesseln und führen den Betrachter gleichermaßen durch die Arbeit.