Bulgarischer Pavillon im Spazio Ravà – Michail Michailov – There You Are
Nachdem beim ersten Besuch im April der bulgarische Pavillon zur Mittagsstunde geschlossen war, galt es sich erneut durch die Massen bei der Rialtobrücke zur Spazio Ravà durchzukämpfen. Und es hat sich durchaus gelohnt. Zu entdecken gab es ein Installation von Michail Michailov, die ausgehend von den Räumen und ihrem Interieur diese sozusagen spiegelte und transformierte und so eine raumfüllende Bühne für den Staub schaffte („Dust to Dust“), für den gleiche neben dem Eingang Besen und Bürsten bereitstanden. Der Staub entpuppte sich bei näherer Betrachtung als feinste Zeichnung dessselben.
Auf dem obigen Bild steckt der Künstler seinen Kopf von draußen nach drinnen, auf dem unteren wartet die Öffnung auf meinen Kopf.
Es ist Dunkel und es riecht nach Erde, Feuchtigkeit, Verwesung, Schimmel. Und es ist grün verwachsen, überwuchert, als ob Rankpflanzen einen greifen wollen. Im April war der Raum im Arsenale noch recht unbewachsen, vereinzelte Pflanzen von denen man denken musste, dass sie zum Ende der Biennale verdorrt auf dem Boden liegen würden. Erdskulpturen die sich in Staub auflösen würden.
Precious Okoyomon – To See the Earth before the End of the World
Doch Ende Oktober wuchern Ranken, die Erde und die Figuren aus Wolle und Erde sind verschwunden. Die Natur erobert sich den Raum, die Wege durch diesen sind fast zugewachsen.
Ein Kunstgarten, der zu Beginn noch von Schmetterlingen bevölkert war, überwuchert mit einer Pflanze, die als invasive Art gilt. Symbol einer Natur, die sich nicht beherrschen lässt und die jeden Eingriff ins Ökosystem zu strafen scheint. Für Okoyomon ist Natur untrennbar mit den historischen Spuren von Kolonisation und Versklavung verbunden. Die Rankpflanze „Kudzu“, die aus Ostasien nach Nordamerika eingeschleppt wurde um die Bodenerosion durch den Baumwollanbau zu begrenzen, ließ sich in diesem Sinne nicht beherrschen und verbreitete invasiv.
Hatte ich doch im April in den Giardini aus irgendwelchen Gründen den Ungarischen Pavillon ausgelassen, so umrundete ich diesmal den markanten Bau aus dem Jahr 1909 und fand hinein.
Zsófia Keresztes – After Dreams: I Dare to Defy the Damage
Im Innenhof öffnet sich der obige Eingang zu einem durch Eisenketten verbundenen Skulpturenpark der ungarischen Künstlerin Zsófia Keresztes, Skulpturen aus Mosaiksteinen die in organischen Formen erotisch sexuelle Assoziationen hervorrufen. Diese Assoziationen sind nicht geschlechtsspezifisch, sondern eine Suche nach Identität. Die Künstlerin bezieht sich dabei auf Schopenhauers Stachelschwein Dilemma, so wie ein Stachelschwein als soziales Wesen die Nähe eines anderen sucht, so besteht in der Nähe aber immer auch die Gefahr von Verletzungen durch die Stacheln des anderen. Ein anderer Auslöser für die Arbeit war der Roman „Reise im Mondlicht“ von Antal Szerb aus dem Jahr 1937. In dem Buch geht es um den jungen Mihaly, der seine, dem eigenen Freund zuvor ausgespannte, frischgebackene Ehefrau bereits in den Flitterwochen verlässt. Als Mihaly in Venedig ankommt, macht er sich allein auf, die Mosaiken von Ravenna zu entdecken, in der Hoffnung, Erinnerungen an seine Kindheit zu wecken. Das Stachelschwein-Dilemma passt perfekt zur Geschichte des Romans: Die Relikte vergangener Kulturen lassen den Protagonisten erkennen, dass Individuen ihre Identität nicht nur aus ihrer eigenen sozialen und kulturellen Sozialisation beziehen, sondern dass die eigene Präsenz zwangsläufig auf den Fragmenten der Vergangenheit aufbaut. Diese Ausstellung paraphrasiert nicht den Roman, sondern verwendet als poetische Analogie die mystische Erfahrung des Protagonisten, die Mosaike zu sehen, insbesondere jenen Moment, in dem sein Sinn für Ganzheit erschüttert und sein zuvor unangefochtenes Weltbild in Frage gestellt wird. Durch das Leiden an Zweifel wächst eine Person in die Lage, sich ihrem sich ständig verändernden Selbst zu stellen. Die Ausstellung in vier größeren Einheiten untersucht sowohl die ambivalente Beziehung zwischen Vergangenheit/Gegenwart und Zukunft als auch die Stadien, in denen Menschen ihre eigene Identität ausarbeiten. In der gegenseitigen Reflexion befreit von den Lasten gemeinsamer und individueller Erfahrungen, versuchen die aufeinander verwiesenen Körperfragmente – getrennt und doch als eine Gemeinschaft existierend – ihre endgültige Form zu erreichen.
Die Gebilde scheinen zum einen eine eigenständige skulpturale Qualität zu haben und sind doch auch ein Ensemble, eine Installation die als ganzes funktionieren soll. Dabei sind die Ketten ein zentrales Element, sie verbinden und fesseln und führen den Betrachter gleichermaßen durch die Arbeit.
Mit diesen Worten will der Chor in dem Sophoklischen Drama „Ödipus auf Kolonos“ den blinden Ödipus aus dem Land weisen. Der blinde Ödipus, der gestützt auf seine Tochter, die auch seine Schwester ist, vor den Toren Athens auf den Hügel Kolonos kommt, um dort den Tod und damit Erlösung und Erfüllung seines Schicksals zu finden.
Für den Griechischen Pavillon auf der diesjährigen Biennale hat Loukia Alavanou einen 17 Minütigen VR Film geschaffen der das über 2400 Jahre alte Drama des Sophokles in die heutige Zeit überträgt. Im Dunkel des Pavillons wird der Betrachter auf speziell entworfenen Sitzen platziert, fast liegend taucht man ein in ein 360° Panorama. Zu Beginn in einem verdreckten Käfig mit Geiern, dann in der Roma-Siedlung Nea Zoi bei Athen. Die Künstlerin hat mit den Bewohnern eine Fassung des Ödipus Stoffes erarbeitet, sie sind die Darsteller und der Betrachter ist mit der VR Technik immer mitten drin. Das Ganze wird von einem Chor aus dem Off kommentiert. Eine wie ich finde gelungene Erfahrung unter Nutzung der VR Technologie und einer der besten Pavillons der diesjährigen Biennale. Mangels eigener Bilder hier der Link zum Instagram-Account des Griechischen Pavillons. https://www.instagram.com/greekpavilion2022/
Bevor man den Italienischen Pavillon betritt sieht man gr0ße Betonelemente mit transparenten pinkfarbigen Durchlässen aus Glas, die eine Art Tulpe aus Beton bilden und im Wasser schwimmen pinkfarbene Kugeln aus Glas, die an die erinnern, die Fischer zum fixieren ihrer Netze im Wasser benutzen. Zwei wenig Aufmerksamkeit erheischende leise ortsspezifische Arbeiten von Virginia Overton.
Die 1971 geborene amerikanische Künstlerin verwendet in ihren ortsspezifischen Arbeiten häufig vorgefundene Materialien und Fundstücke. Es geht ihr primär um das Kunstobjekt im Hinblick auf seine eigene materielle Individualität am konkreten Ort. Die Arbeit ist eine Referenz an die venezianischen Straßenlaternen mit ihrem pinkfarbenen Glas.
Als Kontrast zu Cabrita Reis eine Installation von Delcy Morelos in den Arsenale. In Earthly Paradise (2022) erhebt sich die Erde über den Boden und Erdmassen umgeben den Körper des Betrachters brutshoch. Das Aroma der Erde mischt sich mit dem Geruch von Heu, Maniokmehl, Kakaopulver und Gewürzen wie Nelken und Zimt. Man fühlt sich an Walter De Marias New York Earth Room (1977) erinnert und doch ist Morelos‘ Verwendung der Erde von der Kosmologie der Anden und Amazonas-Indianer geprägt und vermittelt die Vorstellung, dass die Natur nicht etwas untätiges ist, auf das wir zugreifen und kontrollieren können, sondern dass wir als irdische Wesen werden, leben, sterben und uns wieder zu Erde zersetzen.
In der Chiesa di San Fantin gegenüber von La Fenice zeigt Cabrita Reis seine Rauminstallation „Field“, die das ganze Mittelschiff ausfüllt. Jeweils 5 Led-Leuchtröhren (insgesamt 600) sind auf grazile Metalltischen montiert und mit Glasplatten abgedeckt, die wiederum mit Bauschutt (Trümmern) und zufällig geworfenen Kleidungsstücken bedeckt sind. Trümmer, zerborstene Glasplatten und Kleidung bilden eine bizarres Feld. Cabrita Reis selbst lehnt den Begriff „Installation“ ab, er bezeichnet seine Arbeit als großflächige Skulptur.
„The field… I can imagine the magnificence of a flat zone. I’m not a person that likes mountains. I like the sea, most of all, and I like the desert. S, a field is a flat, endless place, a horizontal territory, a horizontal line which together with the vertical line, the human presence, is in factthe ultimate symbol of the universe.“ (Pedro Cabrita Reis)
Im Palazzo Contarini Polignac wird als Nebenprogramm zur Biennale Chun Kwang Young gezeigt. Geschickt durch Licht in Szene gesetzt zeigen sich dem Betrachter großformatige Arbeiten die sich aus dreiseitigen geraden Prismen zusammensetzen, die aus Hanji Papier gefaltet sind und mit einer Schnur zusammengehalten werden. Diese recht trockene Beschreibung wird der gefalteten Überwältigung natürlich nicht gerecht. Die Bilder zeigen es:
Detailaufnahme
Anlässlich einer Ausstellung in Singapur spricht Chun Kwang Young über seine Arbeiten
Und der Palazzo Contarini Polignac bildet mit seinen Räumlichkeiten eine beeindruckende fast dialogische Kulisse für die Arbeiten.
Um zum Pavillon von Zimbabwe zu gelangen, muss man durch die Ausstellung von Carol Feuermans hyperrealistischen Skulpturen von Badenixen gehen, die ein optisches Ärgernis sind. Verlässt man den Raum dann durch den Hinterausgang findet sich am Gebäude dahinter ein Zettel mit der Aufschrift „Zimbabwe“. Dort finden sich dann Arbeiten von Wallen Mapondera, Ronald Muchatuta, Kresiah Mukwazhi und Terrence Musekiwa.
Wallen Mapondera Takatumwa II (2021)Kresiah Mukwazhi, Chembere Dzagumhana (2022)Ronald Muchatuta The Zimbabwean Gaze IITerrence Musekiwa Mutambin Wemumhepo I
Die Kontraste zwischen Carol Feuerman und den Künstlern aus Zimbabwe könnten nicht größer sein. Und dieser Kontrast bekommt der Ausstellung der Künstler aus Zimbabwe gut, die einfachen Materialien, der konkrete Bezug zur eigenen Herkunft und sublime Umsetzung der den Künstlern wichtigen Themen, wie die Begegnung mit dem Tod bei Wallen Mapondera, patriachale Unterwerfung bei Kresiah Mukwazhi und Schichten von Stereotypen und postkolonialer Konditionierung bei Muchatuta entlarven die banale Kunst der Carol Feuerman als das was es ist, Dekadenz und Marketing.