Vom Regen in die Wolfsstunde

Vertraut mit dem Phänomen der Wolfsstunde als jemand der gerne mal zwischen 3 und 4 Uhr in der früh aufwacht und nur schwer in den Schlaf findet, war ich auf die Arbeit von Edith Karlson im Estnischen Pavillon gespannt, „Hora Lupi“ in der Chiesa di Santa Maria delle Penitenti am nördlichen Ende von Cannaregio gelegen, neugierig. Die Fahrt vom Lido zur Station Tre Archi begann dramatisch, ein tiefschwarze Wolken zogen vom Festland heran, auf der Höhe von San Michele erleuchteten Blitze den Himmel und ein stürmischer Wind ließ das Vaporetto in schaumbekrönten Wellen arg schaukeln. Dann die wenigen Meter vom Anleger in die Kirche.

Aus dem Regen ins Halbdunkel der Kirche gelangt, stoße ich auf drei Riesen, die nicht nur eine Schlange oder ein Meeresungeheuer erschlagen wollen, sondern auch mich fast in den Kanal zu werfen drohen. Ich schaue mich um, zuerst fallen zahlreiche Kraniche ins Auge, die auf dem Boden stehen, auf Simsen hocken, der Kranich als Symbol schlafloser Wachsamkeit und auf dem Altar zu Füßen des gekreuzigten Jesus winden sich die Schlangen.

Das ganze findet in der verfallenen Kirche seinen Platz, Installation der Künstlerin und der verfallene Ort mit herabgefallenem Putz und einem Loch im Boden, in dem das Wasser des Kanals schmatzt. Und draußen regnet es immer heftiger, das Auge hat sich an das Dunkel angepasst und findet immer neue Details, seien es kleine Nester mit zerbrochenen Schalen von Vogeleiern, in einer Abseite hängt eine Schlangenhaut, in der Sakristei deren ehemalige Holzverkleidung sich achtlos an einer Wand aufgehäuft findet, stehen drei traurige weibliche Gestalten vor einem Schrank, der einst vielleicht Hostien und Messwein beherbergte und nun bizarre Schädelfragmente aus Keramik zeigt.

Nebenan eine kleiner schmaler Raum mit einem winzigen Bett an dessen Fußende ein Körbchen mit einem Hund aus Keramik, das Bett verlassen vom Schlaflosen und dann trifft dieser im nächsten Raum auf eine zweiköpfige Tiergestalt mit leuchtenden Augen.

Ich wandere weiter und wäre es nicht in diesem Kontext, so würde ich an Kitsch denken, drei Meerjungfrauen mit Echsenköpfen räkeln sich nahe des Lochs im Boden, in den Ecken des Raums getrockneter Seetang, als ob die Damen durch das Loch aus dem Kanal hereingespült worden wären.

Draußen regnet es noch immer, so mache ich eine weitere Runde durch die Räume der Kirche. Da ist noch ein Raum, fast dunkel und nur von wenigen Kerzen erleuchtet. Er ist über und über mit aus Lehm geformten Gesichtern bedeckt, die sich kaum erkennen lassen, auf Nachfrage erfahre ich, dass diese von der Künstlerin mit Besuchern in ihrem Atelier aus Ton geformt wurden, Selbstporträts der besonderen Art. Dieser dunkleste Raum ist gleichsam aber auch der wärmste und zuversichtlichste, ich zeige, wie ich mich sehe und versuche dies in eine Form umzusetzen. Und diese vielen unterschiedlichen Formen unterschiedlicher Gesichter bilden eine gmeinsame Form, werden sozusagen eins ohne ihre Individualität zu verlieren.

Während ich nun schon mit gewisser Ungeduld die Kraniche beobachte, nehme ich den Geruch von Weihrauch wahr, ich kann nicht sagen ob mir die Phantasie einen Streich spielt oder nicht.

Als ein Sonnenstrahl durch die geöffnete Tür hereindringt, verlasse ich die Kirche, das helle Licht vertreibt die Dämonen des Orts und über einige Pfützen springend verlasse ich rasch Cannaregio und es geht weiter zu Rialto, zum Pavillon von Osttimor. Darüber bald mehr.

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